Arzneimittelknappheit – wie weiter?

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Das ist eine neue und ungewohnte Erfahrung für uns in der Schweiz: Versorgungsengpässe in nahezu allen Bereichen. Bei der Versorgung mit Antibiotika gibt es zwei Hauptprobleme: Die Abhängigkeit von unsicheren Lieferketten und die Resistenzen.

Das ist eine neue und ungewohnte Erfahrung für uns in der Schweiz: Versorgungsengpässe in nahezu allen Bereichen – eine übrigens europaweite Tatsache. Dabei fanden Presseberichte über den Mangel an Generika besondere Beachtung. Zeitweise waren bis zu 600 Produkte wie z. B. Propofol (Muskelrelaxans für Intubierung), Fentanyl (Schmerzmittel) oder Synthocinon (Geburtseinleitung) nicht oder nur schwer erhältlich (mehr zum Thema: «Biocatalysis in the Swiss Manufacturing Environment»). Bei der Versorgung mit Antibiotika gibt es zwei Hauptprobleme. Erstens die Abhängigkeit von unsicheren Lieferketten und zweitens die Resistenzen. Corona hat gezeigt, dass auch die Beschaffung von Impfstoffen nicht einfach ist, obwohl es bei unseren europäischen Nachbar:innen umfangreiche Produktionskapazitäten gibt. Wohlgemerkt, die Versorgung mit patentgeschützten Originalpräparaten war nicht das Problem. Es waren die Lieferung von Generika und billigen Verbrauchsgüter wie Schutzmasken oder Plastikwaren, die während der Coronakrise Sorgen bereiteten, weil wir mittlerweile völlig von importierten Produkten abhängig sind.

Generika Produktion in der Schweiz?

China ist nach den USA und Deutschland der drittwichtigste Handelspartner der Schweiz, mit einem deutlichen Exportüberschuss von 12 Milliarden für die Schweiz. Es ist davon auszugehen, dass der Wert von Arzneimitteln, die nach China exportiert werden, den Import von Generika auch deutlich übersteigt. Für eine Repatriierung dieser Generikaproduktion müsste in jeder Beziehung auf- und nachgerüstet werden. Aus ökonomischer Sicht ist eine Rückführung in die Schweiz ökonomischer Unsinn.

 

Welche Optionen haben wir?

Eine typische Spitalapotheke enthält etwa 3000 Medikamente. Eine Priorisierung nach anerkannten Kriterien wäre notwendig. Enea Martinelli schlug an der SATW Retraite vom 18. März 2022 in Bern vor, Arzneimittel in drei Gruppen einzuteilen (mehr zum Thema: «Wie gehen wir künftig mit Engpässen um»):

  • Grün: Medikamente, die überall hergestellt werden können.
  • Gelb: Medikamente, die in mehr als einem Land hergestellt werden müssen, um das Risiko zu mindern.
  • Rot: Medikamente die in der Schweiz hergestellt werden müssten.

In der Schweiz gibt es Firmen mit viel Kompetenz in der Synthese von komplexen, optisch aktiven organischen Molekülen wie Azad Pharma AG, Bachem, Corden Pharma, Dottikon Exclusive Synthesis, Firmenich, Givaudan, Lonza, Max Zeller Söhne AG, Siegfried, Vifor und andere. Eine «Repatriierung» von Generika wäre zeitlich und finanziell jedoch aufwendig. Ausserdem würden die meisten Herstellungsverfahren den aktuellen Umwelt- und Sicherheitsstandards nicht mehr genügen. Es ist daher naheliegend, eine ökonomische, gesundheitspolitische und technologische Auslegeordnung für eine fundierte Entscheidung zu erstellen. Die Tabelle unten fasst die diversen Aspekte zusammen, die für so ein «reshoring» besprochen werden müssten.

Innovation Neue Verfahren zwingend, Biosynthese & Biokatalyse & Biotransformation, Prozessintensifikation, kontinuierliche Verfahren, AI, rechnerunterstütze Synthese, firmenübergreifende Innovation (Blockchain) etc.
Produktionsprozesse & Anlagen E-Faktor (kg Abfall/kg Produkt), Process Material Intensity, Automatisierung, Process Analytical Technology, Energiequellen, reduzierte Energieverbrauch, optimierte Logistik etc.
Ökonomie Fehlende Anlagen & Betriebspersonal, technologische Bindung (Lock-in), Skaleneffizienz, CAPEX & OPEX, Umsatzpotentiale & kritische Marktgrössen, Produktionsszenarien, Preisgestaltung etc.
Strategische Aspekte Produkt-Prioritäten, Langzeitverfügbarkeit der Grundbausteine und Zwischenprodukte, fehlendes Know-how, Preisgestaltung, Regulation & Zulassung, Förderbeiträge, Preiskampf während Übergangsphase etc.

Legende zur Tabelle: Aktuelle Generikaverfahren sind zwar aus Kosten- und Umweltschutzgründen in der Schweiz nicht mehr möglich. Eine gezielte Rückführung besonders kritischer Wirkstoffe ist aber, nach einer umfassenden Abklärung und Standortbestimmung, durchaus umsetzbar.

Wie weiter?

Eine der Schlussfolgerungen der SATW Plattformdiskussion vom 2. Mai 2022 am Swiss Biotech Day in Basel war, die führende Rolle der Schweiz in der Entwicklung und Herstellung von fortschrittlichen Medikamenten auszubauen, indem wir mehr Energie und Ressourcen in die Nachhaltigkeitsgleichung investieren. «Swissness» soll zunehmend wirksame Medikamente bezeichnen, die auch nachhaltig produziert werden (mehr zum Thema: «Sustainability across the pharmaceutical value chain. How Switzerland could take a leading role in promoting a greener approach». In Bezug auf die Generika geht es um die Entwicklung von fortschrittlichen Fertigungsmethoden, die eine erhebliche Senkung der Herstellungskosten im Allgemeinen und Arbeitskosten im Besonderen ermöglichen. Die SATW wird das Thema Innovation um neue Produktionsverfahren 2023 mit Partner:innen bearbeiten.  

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Hans‐Peter Meyer, Expertinova AG, SATW Mitglied, Leiter Wissenschaftlicher Beirat