VII. In dem Lia höchst unordentliche Ereignisse ordnend berichtet

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Vorfallsbeschrieb: Am 25. Mai 2040, abends, meldete mir Stigma ein Digital-Twin-Problem im QPZ Neulikon. Laut Log konnte der Greifarm nur in 16 Prozent der Produktionsabläufe die neuen Kugellager von Station 65c auf Station 65d überführen...

Vorfallsbericht zur Überprüfung und Beurteilung durch den Quartierrat Neulikon

In 84 Prozent der Abläufe, so Stigma, würden die Kugellager auf den Hallenboden fallen. Wie ganz Neulikon weiss und sich olfaktorisch überzeugen kann, wurden die Kugellager jedoch produziert und ausgeliefert, ohne dass auch nur ein einziges von ihnen auf dem QPZ-Boden liegen blieb. Nach Rücksprache mit unserem materiellen Zwillings-QPZ in Baldstetten und dem detaillierten Vergleich der Prüfsummen in den Distributed Ledgers von Kugellagern aus beiden Zwillings-Betrieben war ich mir sicher, auf eine heisse Spur gestossen zu sein: Die Prüfsummen dokumentierten unregelmässig lange Leerläufe zwischen der fehleranfälligen Transaktion und der nachfolgenden Transaktion des Produktionsablaufs. Solche Leerläufe sind typischerweise bei hoher Energielast im Smart Grid vorgesehen und werden deshalb nicht im Fehlerlog protokolliert. In diesem Fall war das Timing der Pausen jedoch nicht mit der Grundlast im Energienetz korreliert. Ausgehend von dieser Information folgte ich meiner Intuition und entschied, den Produktionsprozess in der Nacht vom 29. auf den 30. Mai persönlich zu überwachen. Um die Faber-KI durch meine Beobachtung nicht zu stören, nahm ich die Beobachtung vollständig offline vor.

Tatsächlich hörte ich bald ein lautes «Klonk», als ein Kugellager – wie aus Stigmas Zwillingsvorhersage bekannt – aus den Greifern fiel. Doch statt weiterzuarbeiten und den Fehler zu übersehen, setzte das analoge QPZ einen Pull-Alarm ab, wie ich an der Sirene erkennen konnte. Vom ungewöhnlichen Vorgang überrascht, versteckte ich mich hinter einem Aufbereitungscontainer, der nach frisch rezyklierten Werkstoffen roch, und wartete.

Gegen 23.32 Uhr konnte ich ein Supplement sehen, im Quartiersmund Helferli genannt, einen aufgelösten Mann von 63 Jahren mit einem beseelten Lächeln auf dem Gesicht. Er trat zur Maschine heran und legte die Hand, ich will fast sagen: tröstend, auf den Greifarm, ein eigenartiger Vorgang, wie ich fand, doch die Maschine zuckte dabei nicht zusammen und schaltete ab, wie es aus Sicherheitsgründen das Protokoll vorsieht, sondern drehte die Handfläche nach oben, in die das Helferli seine Finger für einen Moment hineinlegte und scheu wieder zurückzog. Es lachte, und die Maschine blinkte ungewöhnlich. Ich beobachtete das Geschehen und trat erst heraus, nachdem das Helferli unter die Maschine geschlüpft und nach zehn Minuten mit dem Kugellager hervorgekrochen kam. Als ich mich als Stigma engineer zu erkennen gab, schien es in Panik zu verfallen:

«Nein, nein, bitte schicken Sie mich nicht weg! Ich werde hier gebraucht – und ich brauche ––» mit diesen Worten klammerte er sich an den Greifarm und brach in Tränen aus. Aufmunternd schmiegte sich eine Drohne an seine Schulter, während die Maschinen fiepsten und wimmerten. Ich versuchte, die beiden voneinander zu trennen, weil ich befürchtete, er könnte die Maschine beschädigen. Bevor ich den Mentalalarm betätigen konnte, zeichnete der Greifarm mit seinen Laserdioden Schriftzeichen in den Container: «WALTER – DU – BIST – DIE – EINZIGE – LOSGRÖSSE – FÜR – MICH. »

Das Team, das die Aufsicht über das QPZ hatte, bestand typischerweise aus Programmierlis und Psychologlis, die sich um die beiden kümmerten. Sie beruhigten sie mit einer regelmässigen Hashrate , die die aufgeregte Maschine wieder ausgeglichen ins Smart Grid zurückgleiten liess; und mit kurzen Passagen von Max Frisch, die sie dem Helferli vorlasen. Zusammenfassend kann ich feststellen, dass sich das QPZ – unabhängig vom Stigma, ihrem Digital-Twin, – selbständig dazu entschlossen hatte, Hilfe zu holen. Jede Nacht und ohne bleibende Schäden in der Produktionskette zu hinterlassen. Diese recht altmodische Angewohnheit hatte das QPZ Neulikon von sich aus evaluiert und zur idealen Möglichkeit erkoren, die Robotik nicht als Antipodin zur menschlichen Arbeit, sondern als ein gemeinsames und auf gegenseitiger Unterstützung basierendes Projekt in die Tätigkeit der Menschen einzubetten. Kurz gesagt: Das QPZ hatte die Menschen gebraucht, weil es sie rührt, gebraucht zu werden.